Aktuelle Verwaltungsregeln und neue Streitfragen zu den Reisekosten

Haufe Online Redaktion • 12. Juli 2023
Das BMF hat seinen Erlass zur "Steuerlichen Behandlung der Reisekosten von Arbeitnehmern" zuletzt Ende 2020 neu gefasst. Berücksichtigt wird darin insbesondere die neuere BFH-Rechtsprechung mit Schwerpunkten bei der ersten Tätigkeitsstätte, der Mahlzeitengestellung und der doppelten Haushaltsführung. Inzwischen sind weitere Zweifelsfälle gerichtlich entschieden oder anhängig geworden.

Das aktuelle Reisekostenschreiben ist in allen aktuellen und offenen Fällen anzuwenden. Nachfolgend stellen wir Ihnen einige Schwerpunkte sowie aktuelle Streitthemen und Zweifelsfragen vor:

Definition der ersten Tätigkeitsstätte
Bezüglich des steuerfreien Reisekostenersatzes und der Höhe der abzugsfähigen Werbungkosten für Auswärtstätigkeiten kommt es entscheidend darauf an, ob Arbeitnehmende eine erste Tätigkeitsstätte haben oder nicht. In der Steuererklärung kann für die Fahrt zur ersten Tätigkeitsstätte nur die sog. Entfernungspauschale geltend gemacht werden. Eine erste Tätigkeitsstätte ist gegeben, wenn der Arbeitgeber den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin
arbeitsrechtlich einer (von der Wohnung getrennten) ortsfesten betrieblichen Einrichtung beim Arbeitgeber oder einem Dritten (z.B. Kunden) dauerhaft zuordnet und der/die Betroffene dort zumindest in geringem Umfang tätig wird.

Erste Tätigkeitsstätte allgemein
Das BMF-Schreiben enthält folgende Neuerungen zur Bestimmung der ersten Tätigkeitsstätte:

Als erste Tätigkeitsstätte kommt auch ein großflächiges und entsprechend infrastrukturell erschlossenes Gebiet, wie z. B. eine Werksanlage, ein Betriebsgelände, Zechengelände, Bahnhof oder ein Flughafen in Betracht (BFH, Urteile v. 11. April 2019, VI R 40/16 und VI R 12/17, BStBl II S. 546 und 551).
Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass ein Arbeitnehmer am Ort der ersten Tätigkeitsstätte zumindest in geringem Umfang Tätigkeiten zu erbringen hat, die er/sie arbeitsvertraglich oder dienstrechtlich schuldet und die zum ausgeübten Berufsbild gehören (BFH, Urteil v. 4. April 2019, VI R 27/17, BStBl II S. 536 und BFH, Urteil v. 11. April 2019, VI R 40/16). Danach haben z.B. viele Beamte und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst eine erste Tätigkeitstätte, im Urteilsfall ging es um einen Streifenpolizisten. Ebenfalls hat der BFH erste Tätigkeitsstätten bei fliegendem Personal am Heimatflughafen bestätigt.
Inzwischen hat der BFH - unter Beibehaltung der vorstehenden Grundsätze - eine erste Tätigkeitsstätten auch für Postzusteller (BFH, Urteil v. 30. September 2020 – VI R 10/19), Rettungsassistenten (BFH, Urteil v. 30. September 2020 – VI R 11/19), Gerichtsvollzieher (BFH, Urteil v. 16. Dezember2020 – VI R 35/18), Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes (BFH, Urteil v. 12. Juli 2021 – VI R 9/19, NV) und Zeitsoldaten (BFH, Urteil v. 22. November 2022 – VI R 6/21, NV) bejaht.
Die Zuordnung durch den Arbeitgeber kann außerhalb des Dienst- oder Arbeitsvertrags erfolgen (auch mündlich oder konkludent) und ist unabhängig davon, ob sich der Arbeitgeber der steuerlichen Folgen bewusst ist. Sie kann sich auch ergeben aus: Tarifvertrag, Protokollnotizen, dienstrechtlichen Verfügungen, Einsatzplänen, Reiserichtlinien, Reisekostenabrechnungen, dem Ansatz eines geldwerten Vorteils für die Nutzung eines Dienstwagens für die Fahrten zur ersten Tätigkeitsstätte oder vom Arbeitgeber vorgelegten Organigrammen BFH, Urteil v. 11. April 2019, VI R 40/16 und BFH, Urteil v. 4. April 2019, VI R 27/7).
Eine Zuordnung ist unbefristet, wenn die Dauer der Zuordnung zu einer Tätigkeitsstätte nicht kalendermäßig bestimmt ist und sich auch nicht aus Art, Zweck oder Beschaffenheit der Arbeitsleistung ergibt. Der Umstand, dass ein Arbeitnehmer jederzeit einer anderen Tätigkeitsstätte zugeordnet werden könnte, führt nicht zur Annahme einer befristeten Zuordnung (BFH, Urteil v. 4. April 2019, VI R 27/7).
Weitere Einzelheiten zur vorstehenden Thematik finden Sie auch in unserem Beitrag „Aktuelle Urteile zur ersten Tätigkeitsstätte“.

Befristete Beschäftigungsverhältnisse und Leiharbeit
Bisher vertritt die Finanzverwaltung die Auffassung, dass auch Leiharbeitnehmende eine erste Tätigkeitsstätte haben können, wenn sie ausnahmsweise dauerhaft (§ 9 Absatz 4 Satz 3 EStG, "bis auf Weiteres" also unbefristet, für die gesamte Dauer des Leiharbeitsverhältnisses oder länger als 48 Monate) in einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Entleihers tätig werden sollen.

Dem hat der BFH jedoch inzwischen widersprochen. Maßgebliches Arbeitsverhältnis für die Frage, ob Leiharbeitnehmende einer betrieblichen Einrichtung dauerhaft zugeordnet sind, ist das zwischen dem Verleiher und ihnen bestehende Arbeitsverhältnis. Besteht der Einsatz beim Entleiher in wiederholten, aber befristeten Einsätzen, fehlt es an einer dauerhaften Zuordnung (BFH, Urteil v. 12. Mai 2022 - VI R 32/20).

Bildungseinrichtung als erste Tätigkeitsstätte
Erste Tätigkeitsstätte ist hingegen auch eine Bildungseinrichtung, die außerhalb eines Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufgesucht wird (§ 9 Absatz 4 Satz 8 EStG). Die Dauer einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme ist für die Einordnung einer Bildungseinrichtung als erste Tätigkeitsstätte dabei unerheblich. Ausreichend ist, wenn der Auszubildende/Studierende die Bildungseinrichtung anlässlich der regelmäßig zeitlich befristeten Bildungsmaßnahme nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, d.h. fortdauernd und immer wieder (dauerhaft) aufsucht (BFH, Urteil v. 14. Mai 2020, VI R 24/18).

Zuletzt hat der BFH jedoch entschieden, dass Studierende, die einen Teil des Studiums an einer anderen (weiteren) Hochschule (hier Auslandssemester) absolvieren können bzw. müssen, an der anderen Hochschule keine weitere erste Tätigkeitsstätte begründen. Entsprechendes gilt in der Regel auch für Studierende, die im Rahmen ihres Studiums ein Praxissemester oder Praktikum ableisten können bzw. müssen und dabei ein Dienstverhältnis begründen (BFH, Urteil v. 14. Mai 2020, VI R 3/18). Dieses Urteil ist im neuen BMF-Schreiben noch nicht enthalten.

Hinweis - Ausbildungskosten als Sonderausgaben: Von dieser Rechtsprechung profitieren allerdings regelmäßig nur Studierende, die bereits eine Erstausbildung (Berufsausbildung oder einen Bachelorstudiengang) abgeschlossen haben. Aufwendungen für die erste Ausbildung (Berufsausbildung oder Studium) sind hingegen vom Werbungskostenabzug ausgenommen (§ 9 Abs. 6 EStG). Der Aufwand wird nur im Rahmen des Sonderausgabenabzugs berücksichtigt und wirkt sich steuerlich nur aus, wenn die/der Studierende im Jahr der Aufwandsentstehung über steuerpflichtige Einkünfte verfügt.

Aktuelles zu den Spesen
Arbeitnehmende können für tatsächlich entstandene Verpflegungsmehraufwendungen aufgrund einer beruflich veranlassten Auswärtstätigkeit nach der Abwesenheitszeit von Wohnung und erster Tätigkeitsstätte gestaffelte Verpflegungspauschalen als Werbungskosten ansetzen oder in entsprechender Höhe einen steuerfreien Arbeitgeberersatz erhalten. Die Berücksichtigung der Pauschalen für die Verpflegungsmehraufwendungen ist im In- und Ausland auf die ersten drei Monate einer beruflichen Tätigkeit an ein und derselben Tätigkeitsstätte beschränkt.

Wird Arbeitnehmenden vom Arbeitgeber oder auf dessen Veranlassung von einem Dritten eine Mahlzeit zur Verfügung gestellt, werden die Pauschalen gekürzt, und zwar

um 20 Prozent für ein Frühstück und
um jeweils 40 Prozent für ein Mittag- und Abendessen.
der für die 24-stündige Abwesenheit geltenden höchsten Verpflegungspauschale. Steht Arbeitnehmern keine Verpflegungspauschale zu (z. B. weil die Tätigkeit weniger als 8 Stunden beträgt oder die sog. Dreimonatsfrist abgelaufen ist), so ist eine Versteuerung der Mahlzeit mit dem Sachbezugswert vorzunehmen.

Reisekosten: Letzte Änderungen
Für eintägige auswärtige Tätigkeiten ohne Übernachtung kann seit 2020 ab einer Abwesenheit von mehr als acht Stunden von der Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte eine Pauschale von 14 Euro berücksichtigt werden. Für die Kalendertage, an denen Arbeitnehmer 24 Stunden abwesend sind, kann eine Pauschale von 28 Euro vom Arbeitgeber steuerfrei ersetzt bzw. als Werbungskosten in der Steuererklärung geltend gemacht werden (§ 9 Abs. 4a Satz 3 Nr. 1 EStG). Für den An- und Abreisetag einer solchen mehrtägigen auswärtigen Tätigkeit kann eine Pauschale von jeweils 14 Euro steuerlich angesetzt werden (§ 9 Abs. 4a Satz 3 Nr. 2 EStG).

Zu den je nach Staat unterschiedlichen Pauschalen für Auslandstätigkeiten gibt das BMF im Regelfall jährlich geänderte Tabellen heraus (für 2023: BMF, Schreiben vom 23. November 2022 – IV C 5 – S 2353/19/10010 :004).

Bei Mahlzeitengestellung ergibt sich für Auswärtstätigkeiten im Inland eine Kürzung der jeweils zustehenden Verpflegungspauschale um 5,60 Euro für ein Frühstück und jeweils 11,20 Euro für ein Mittag- und Abendessen. Im Ausland hängen die Kürzungen von der jeweiligen höchsten Verpflegungspauschale ab.

Beispiel 1: Eine Mitarbeiterin ist von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr auswärts bei verschiedenen Kunden im Inland beruflich tätig. In der Mittagspause kauft sie sich eine Pizza und ein Wasser für 8 Euro. Weil sie anlässlich einer eintägigen beruflichen Auswärtstätigkeit mehr als acht Stunden von ihrer Wohnung abwesend ist, kann sie grundsätzlich eine Verpflegungspauschale von 14 Euro beanspruchen. Würde sie die Rechnung für die mittags verzehrte Pizza und das Wasser ihrem Arbeitgeber vorlegen und erstattet bekommen, könnte sie nur noch eine gekürzte Verpflegungspauschale von 2,80 Euro (14 Euro - 11,20 Euro) beanspruchen.

Nur ausnahmsweise kommt es bei Auswärtstätigkeiten zum Ansatz der Sachbezugswerte (bei einer Mahlzeitengestellung, wenn keine kürzbaren Verpflegungsaufwendungen zu gewähren sind). Ab 2023 sind die Sachbezugswerte auf 2,00 Euro für ein Frühstück und 3,80 Euro für ein Mittag- oder Abendessen angehoben worden.

Einzelheiten zur Mahlzeitenkürzung
Hinsichtlich der Mahlzeitenkürzung ist im Erlass auf Regelungen hinzuweisen:

Eine Mahlzeit, die zur Kürzung der Verpflegungspauschale führt, kann nach Verwaltungsauffassung auch ein vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellter Imbiss wie z.B. belegte Brötchen, Kuchen und Obst sein. Die u.a. auf Flügen gereichten kleinen Tüten mit Chips, Salzgebäck, Schokowaffeln, Müsliriegeln oder bei anderen Anlässen zur Verfügung gestellte vergleichbare Knabbereien sowie unbelegte Backwaren (BFH, Urteil v. 3. Juli 2019, VI R 36/17) erfüllen hingegen nicht die Kriterien für eine Mahlzeit. Sie führen zu keiner Kürzung der Pauschalen. Im Urteilsfall hatte ein Arbeitgeber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern täglich unbelegte Brötchen kostenlos zur Verfügung gestellt. Nach der Entscheidung des BFH sind unbelegte Brötchen auch in Kombination mit einem Heißgetränk kein Frühstück. Selbst für ein einfaches Frühstücks müsse jedenfalls noch ein Aufstrich oder ein Belag hinzutreten. Damit lagen im Urteilsfall steuerfreie Aufmerksamkeiten vor.
Das Zurverfügungstellen einer Mahlzeit durch den Arbeitgeber und damit die Kürzung erfordert nicht, dass der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin die Mahlzeit auch tatsächlich einnimmt. Aus welchen Gründen die Mahlzeit nicht eingenommen wird, ist insoweit unerheblich (BFH, Urteil v. 7. Juli 2020, VI R 16/18). Im Urteilsfall wurden einem Soldaten sämtliche Mahlzeiten vom Dienstherrn bereitgestellt. Der Kläger nahm jedoch nur am Mittagessen teil, die anderen Mahlzeiten organisierte er sich selbst. Trotzdem waren die Pauschalen (bis auf Null) zu kürzen.
Bei Nichteinnahme kann der Arbeitgeber aber eine weitere gleichartige Mahlzeit zur Verfügung stellen (soweit insgesamt der Höchstbetrag von 60 Euro für übliche Mahlzeiten nicht überschritten wird). Ein Werbungskostenabzug bei der Einkommensteuerveranlagung für eine auf eigene Veranlassung eingenommene Verpflegung anstelle der vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Mahlzeit ist hingegen ausgeschlossen.
Beispiel 2: Ein Mitarbeiter verschläft auf dem vom Arbeitgeber gebuchten (Inlands-)Flug das Frühstück. Nach seiner Ankunft nimmt er ein Frühstück zum Preis von 16 Euro im Flughafenrestaurant ein. Er reicht die Frühstücksrechnung beim Arbeitgeber ein und erhält die Kosten in voller Höhe erstattet. Damit wird auch das zweite Frühstück vom Arbeitgeber gestellt. Die Verpflegungspauschale ist wie folgt zu berechnen:

Anreisetag: 14,00 Euro
Kürzung für gestelltes Frühstück insgesamt : ./. 5,60 Euro
verbleibende steuerfreie Verpflegungspauschale: 8,40 Euro
Übernachtung im LKW
Zur Abgeltung der notwendigen Mehraufwendungen, die Arbeitnehmenden während einer Auswärtstätigkeit auf einem Kraftfahrzeug des Arbeitgebers im Zusammenhang mit einer Übernachtung in dem Kraftfahrzeug entstehen, kann seit 2020 einheitlich im Kalenderjahr eine Pauschale von 8 Euro für jeden Kalendertag berücksichtigt werden, an dem der Arbeitnehmer eine Verpflegungspauschale beanspruchen könnte.

Nach dem Erlass kann die Pauschale auch von mitfahrenden Arbeitnehmern beansprucht werden, die ebenfalls im Fahrzeug übernachten, wenn der Arbeitgeber keine weiteren Erstattungen für Übernachtungskosten leistet bzw. keine weiteren Übernachtungskosten als Werbungskosten geltend gemacht werden.

Neues zur doppelten Haushaltsführung
Notwendige Mehraufwendungen, die Beschäftigen wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, sind Werbungskosten in der Steuererklärung (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG), und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen die doppelte Haushaltsführung begründet oder beibehalten wird. Abzugsfähig sind die Fahrtkosten für die erste und letzte Fahrt zwischen Haupt- und Zweitwohnung (in Höhe der tatsächlichen Kosten) und für wöchentliche Familienheimfahrten (in Höhe der Entfernungspauschale von 0,30 Euro für die ersten zwanzig Entfernungskilometer und in Höhe von inzwischen 0,38 Euro ab dem 21. Entfernungskilometer). Außerdem können Mehraufwendungen für Verpflegung (für die ersten drei Monate), Telefonkosten sowie Umzugskosten angesetzt werden. Daneben sind die Aufwendungen für die Unterkunft selbst bis maximal 1.000 Euro monatlich ansetzbar.

Wichtig: Das Vorliegen eines Doppelhaushalts setzt zunächst das Vorhandensein und die Beibehaltung eines Ersthaushalts mit entsprechender Kostenbelastung voraus. Mit den Anforderungen an die Kostenbeteiligung im Inlands- und im Auslandsfall hat sich die Rechtsprechung aktuell befasst. Einzelheiten dazu finden Sie in unserem Beitrag "Doppelte Haushaltsführung – Kostenbeteiligung an der Lebensführung erforderlich".

Der überarbeitete Verwaltungserlass enthält darüber hinaus Regelungen insbesondere zu folgenden Punkten:

Lage von Hauptwohnung, Zweitwohnung und erster Tätigkeitsstätte
Eine doppelte Haushaltsführung liegt nur vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes seiner ersten Tätigkeitsstätte einen eigenen Haushalt unterhält (Hauptwohnung) und auch am Ort der ersten Tätigkeitsstätte wohnt (Zweitwohnung). Aus Vereinfachungsgründen konnte nach bisheriger Verwaltungsauffassung von einer Zweitunterkunft oder --wohnung am Ort der ersten Tätigkeitsstätte dann noch ausgegangen werden, wenn der Weg von der Zweitunterkunft oder --wohnung zur ersten Tätigkeitsstätte weniger als die Hälfte der Entfernung der kürzesten Straßenverbindung zwischen der Hauptwohnung (Mittelpunkt der Lebensinteressen) und der ersten Tätigkeitsstätte beträgt.

Der BFH hat hingegen entschieden, dass eine doppelte Haushaltsführung nicht vorliegt, wenn die Hauptwohnung, d.h. der "eigene Hausstand", ebenfalls am Beschäftigungsort belegen ist. Das soll der Fall sein, wenn der Steuerpflichtige von dieser seine Arbeitsstätte in zumutbarer Weise täglich erreichen kann (BFH, Urteil v. 16. November 2017, VI R 31/16, BStBl II 2018 S. 404).

Der neue Verwaltungserlass setzt diese Rechtsprechung um und regelt die Fälle wie folgt:

Eine Fahrzeit von bis zu einer Stunde je Wegstrecke unter Zugrundelegung individueller Verkehrsverbindungen und Wegezeiten kann in der Regel als zumutbar angesehen werden. Dann liegt keine doppelte Haushaltsführung vor.
Beträgt die Entfernung zwischen Hauptwohnung und erster Tätigkeitsstätte mehr als 50 km, ist davon auszugehen, dass sich die Hauptwohnung außerhalb des Ortes der ersten Tätigkeitsstätte befindet und eine doppelte Haushaltsführung ist grundsätzlich möglich.
Aus Vereinfachungsgründen kann davon ausgegangen werden, dass die Zweitwohnung noch am Ort der ersten Tätigkeitsstätte belegen ist und damit ein Doppelhaushalt grundsätzlich möglich ist, wenn die Entfernung zwischen Zweitwohnung oder --unterkunft und erster Tätigkeitsstätte nicht mehr als 50 km beträgt.
Liegt die Zweitwohnung mehr als 50 km von dem Ort der ersten Tätigkeitsstätte entfernt, ist zu prüfen, ob die erste Tätigkeitsstätte von der Zweitwohnung oder --unterkunft noch in zumutbarer Weise täglich erreicht werden kann (Fahrtzeit bis zu einer Stunde, siehe oben).
Das Beziehen der Zweitwohnung oder --unterkunft muss zudem aus beruflichen Gründen erforderlich sein. Aus Vereinfachungsgründen kann nach dem Erlass von einer beruflichen Veranlassung des Beziehens der Zweitwohnung oder --unterkunft ausgegangen werden, wenn

die kürzeste Straßenverbindung von der Zweitwohnung oder --unterkunft zur ersten Tätigkeitsstätte weniger als die Hälfte der kürzesten Straßenverbindung zwischen der Hauptwohnung und der ersten Tätigkeitsstätte beträgt
oder die Fahrzeit zur ersten Tätigkeitsstätte für eine Wegstrecke halbiert wird.
Beispiel 3: Ein Mitarbeiter hat seine Hauptwohnung in Berlin und in Cottbus seine erste Tätigkeitsstätte. Die Entfernung von Berlin (Hauptwohnung) nach Cottbus beträgt 100 km und die Fahrzeit mit der Bahn 50 Minuten. Der Arbeitnehmer nimmt sich in Forst eine Zweitwohnung. Die Entfernung von dieser Zweitwohnung nach Cottbus (erste Tätigkeitsstätte) beträgt 30 km. Auf Grund der Entfernung von mehr als 50 km zwischen Hauptwohnung und erster Tätigkeitsstätte liegt die Hauptwohnung nicht am Ort der ersten Tätigkeitsstätte. Die Zweitwohnung in Forst liegt 30 km entfernt und damit noch am Ort der ersten Tätigkeitsstätte. Es liegt eine doppelte Haushaltsführung vor. Da die kürzeste Straßenverbindung von der Zweitwohnung zur ersten Tätigkeitsstätte (30 km) auch weniger als die Hälfte der Straßenverbindung zwischen Hauptwohnung in Berlin und erster Tätigkeitsstätte beträgt (1/2 von 100 km = 50 km), kann auch von einer beruflichen Veranlassung der doppelten Haushaltsführung ausgegangen werden.

Höchstbetrag für Unterkunftskosten
Nach der Rechtsprechung des BFH gehören Kosten für Einrichtungsgegenstände und Hausrat nicht zu den Aufwendungen für die Nutzung der Unterkunft (BFH, Urteil v. 4. April 2019, VI R 18/17, BStBl II S. 449).

Der Erlass enthält deshalb eine überarbeitete Aufzählung: Der Höchstbetrag von 1.000 Euro monatlich für die Zweitwohnung umfasst danach sämtliche entstehenden Aufwendungen wie Miete, Betriebskosten, Kosten der laufenden Reinigung und Pflege der Zweitwohnung oder -unterkunft, Zweitwohnungsteuer, Rundfunkbeitrag, Aufwendungen für Sondernutzung (wie Garten), die vom Arbeitnehmenden selbst getragen werden, sowie Miet- oder Pachtgebühren für Kfz-Stellplätze (siehe dazu jedoch nachstehend).

Nicht umfasst werden Aufwendungen für Hausrat, Einrichtungsgegenstände oder Arbeitsmittel, mit denen die Zweitwohnung ausgestattet ist. Sie können als sonstige notwendige Mehraufwendungen der doppelten Haushaltsführung berücksichtigt werden. Übersteigen die Anschaffungskosten für Einrichtung und Ausstattung (ohne Arbeitsmittel) insgesamt nicht den Betrag von 5.000 Euro einschließlich Umsatzsteuer, ist aus Vereinfachungsgründen davon auszugehen, dass es sich um notwendige Mehraufwendungen der doppelten Haushaltsführung handelt. Wird die Zweitwohnung oder --unterkunft möbliert angemietet, überschreitet die Miete den Höchstbetrag und enthält der Mietvertrag keine Aufteilung der Miete für die Überlassung der Wohnung und der Einrichtung und Ausstattung, ist die Miete im Schätzwege aufzuteilen (BFH, Urteil v. 4. April 2019, VI R 18/17).

Aktueller Hinweis - Stellplatz und Garage: Aufwendungen für einen separat angemieteten Garagenstellplatz sollen nach dem Erlass in den Höchstbetrag einzubeziehen sein. Das ist jedoch aktuell in einem Revisionsverfahren vor dem BFH streitig (Az. BFH VI R 4/23; vorgehend FG Niedersachsen, Urteil v. 16. März 2023, 10 K 202/22).

Bereits das FG Saarland hatte der Verwaltungsauffassung widersprochen. Nach seinem Urteil gehören die Aufwendungen für einen separat angemieteten PKW-Stellplatz zum Parken des Dienstwagens nicht zu den Aufwendungen für die Nutzung der Unterkunft, sondern zu den sonstigen abziehbaren Mehraufwendungen einer doppelten Haushaltsführung (FG Saarland, Gerichtsbescheid v. 20.5.2020, 2 K 1251/17).

Doppelte Haushaltsführung: Beendigung
Bei Beendigung der doppelten Haushaltsführung ist eine Vorfälligkeitsentschädigung wegen vorzeitiger Ablösung einer Hypothek aufgrund der Veräußerung der Zweitwohnung nicht als Werbungskosten zu berücksichtigen (vgl. BFH, Urteil v. 3. April 2019, VI R 15/17, BStBl II S. 446). Mit Beendigung der doppelten Haushaltsführung und der Veräußerung der Wohnung wird nach der Entscheidung des BFH Veranlassungszusammenhang zur Anstellung aufgelöst. Auch dieses Urteil setzt die Verwaltung um.

Hinweis: BMF, Schreiben v. 25. November 2020, IV C 5 - S 2353/19/10011 :006; BStBl I S. 1228
von Haufe Online Redaktion (OLG Frankfurt) 5. Juni 2025
Wer mit seinem Auto auf seinen Vordermann auffährt, hat unter Haftungsaspekten in der Regel schlechte Karten. Doch es gibt auch Situationen, in denen der Anscheinsbeweis erschüttert wird und den Vordermann eine erhebliche Mithaftung trifft. Der Unfall ereignete sich auf einer Autobahn an einer unübersichtlichen Stelle bei dichtem Verkehr. Der Fahrer eines Ford Ranger war auf der dreispurigen Autobahn zuerst auf der linken Spur unterwegs. Als sich die Fahrbahn aufgrund einer Baustelle auf zwei Spuren verengte, begann er, sein Fahrzeug in Richtung des mittleren Fahrstreifens zu manövrieren. Spurwechsel wieder rückgängig gemacht Doch diesen Spurwechsel schloss er nicht ab. Als er bemerkte, dass das Verkehrsaufkommen auf der mittleren Spur sehr hoch war – er hatte die Fahrbahn erst zur Hälfte gewechselt – schwenkte er wieder auf die linke Spur zurück, ebenso wie das vor ihm fahrende Auto. Kurz nach dieser Aktion wurde das vorausfahrende Fahrzeug innerhalb kurzer Zeit bis zum Stillstand abgebremst. Der Ford-Fahrer brachte sein Fahrzeug auch noch zum Stehen. Doch das hinter ihm fahrende Auto schaffte das nicht mehr und fuhr auf den Ford auf, bei dem der Schaden auf 60.000 EUR taxiert wurde. Atypischer Geschehensablauf steht Anscheinsbeweis entgegen Vor Gericht musste die Haftungsfrage geklärt werden und die fiel nicht so klar aus, wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Der grundsätzlich gegen den Auffahrende geltende Anscheinsbeweis greife im vorliegenden Fall nicht, entschied das OLG Frankfurt und begründete dies im Einzelnen so: Die unklare Verkehrslage und der atypische Geschehensablauf stehen dem Anscheinsbeweis entgegen. Es spreche gegen den Anscheinsbeweis, dass der Fahrer des Ford im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abgebrochen habe. Auch habe der Ford-Fahrer eingeräumt, das Fahrzeug des Auffahrenden auf dem linken Fahrstreifen nicht gesehen zu haben. Dies spreche dagegen, dass er vor seinem „Schlenker“ zurückgeschaut und sich so über den rückwärtigen Verkehr auf der linken Spur versichert habe. Es gebe auch keine Anzeichen dafür, dass der Ford-Fahrer vor dem Wechsel auf die linke Fahrbahn geblinkt und somit den Abbruch des zunächst begonnenen Fahrstreifenwechsels angezeigt habe. Ford-Fahrer hätte mit abruptem Abbremsen vorausfahrender Fahrzeuge rechnen müssen Allerdings treffe den Ford-Fahrer auch nicht die Alleinschuld an dem Auffahrunfall, so das OLG. Dagegen spreche die unklare Verkehrslage im Hinblick auf das Enden der vom Beklagten benutzten Fahrspur und außerdem das starke Verkehrsaufkommen, bei dem jederzeit mit dem abrupten Abbremsen vorausfahrender, die Spur wechselnder Fahrzeuge zu rechnen gewesen sei. Letztlich schloss das Gericht, dass beide Parteien einen gleichartigen Anteil an der Entstehung des Unfalls haben. Die Haftungsquote beträgt je 50 %. (OLG Frankfurt, Urteil v. 29.4.2025, 9 U 5/24)
von Haufe Online Redaktion (BGH) 5. Juni 2025
Widerspricht ein Mieter einer Kündigung unter Berufung auf eine gesundheitliche Härte, muss er die Umstände, die die Härte begründen, medizinisch fundiert untermauern. Das kann durch das Attest eines Facharztes erfolgen, aber auch andere medizinisch qualifizierte Stellungnahmen können ausreichen. Hintergrund: Mieter widerspricht Eigenbedarfskündigung Der Vermieter einer Wohnung verlangt vom Mieter nach einer Kündigung wegen Eigenbedarfs die Räumung der Wohnung. Der Mieter widersprach der Kündigung unter Berufung auf gesundheitliche Härtegründe. Zur Begründung legte er eine "Stellungnahme über Psychotherapie" eines sich als Psychoanalytiker bezeichnenden Behandlers vor. Im Briefkopf sind die Tätigkeitsfelder des Behandlers unter anderem als "Psychoanalyse" und "Psychotherapie (HPG)" bezeichnet. In der Stellungnahme heißt es, es fänden regelmäßig einmal wöchentlich psychotherapeutische Sitzungen mit dem Mieter statt. Dieser leide an einer akuten Depression und emotionaler Instabilität verbunden mit Existenzängsten, die ihn zeitweise arbeitsunfähig machten. Ein Umzug führe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes. Amts- und Landgericht hielten den Widerspruch gegen die Kündigung für unbegründet und gaben der Räumungsklage statt. Das Landgericht meinte, der Mieter habe Härtegründe, die eine Fortsetzung des Mietverhältnisses rechtfertigen, schon nicht hinreichend dargelegt, so dass auch kein Sachverständigengutachten einzuholen sei. Die vorgelegte Bescheinigung sei schon deshalb unerheblich, weil sie nicht von einem Facharzt stamme, und überdies nicht aussagekräftig. Entscheidung: Härte kann auch ohne fachärztliches Attest dargelegt werden Der BGH hebt das Urteil des Landgerichts auf und verweist den Rechtsstreit dorthin zurück. Nach der Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses durch den Vermieter kann ein Mieter der Kündigung widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Das ergibt sich aus § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Einen Härtegrund kann es darstellen, wenn für den Mieter mit einem Umzug erhebliche gesundheitliche Risiken verbunden wären. Dabei obliegt es dem Mieter, die Umstände darzulegen und zu beweisen. Der erforderliche hinreichend substantiierte Sachvortrag des Mieters zu einer gesundheitlichen Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann durch Vorlage eines ausführlichen fachärztlichen Attests untermauert werden. Anders als das Landgericht meint, ist ein fachärztliches Attest aber nicht zwingend. Auch eine ausführliche Stellungnahme eines hinsichtlich des geltend gemachten Beschwerdebildes medizinisch qualifizierten Behandlers – etwa eines Psychotherapeuten – kann ausreichen, wenn sie die Auswirkungen eines Umzugs auf die Gesundheit des Mieters nachvollziehbar darlegt. Entscheidend sind die konkreten Umstände und der Inhalt der Stellungnahme, nicht allein die Qualifikation des Behandlers. Das Landgericht durfte daher die vorgelegte Stellungnahme nicht deshalb unbeachtet lassen, weil sie nicht von einem Facharzt stammte, und muss nun klären, inwieweit medizinische Härtegründe vorliegen, die einen Widerspruch gegen die Kündigung rechtfertigen. (BGH, Urteil v. 16.4.2025, VIII ZR 270/22) § 574 BGB Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung (1) Der Mieter kann der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. ...
von Dr. Jochen Pörtge Rechtsanwalt, ADVANT Beiten Düsseldorf 5. Juni 2025
Die neue DIN SPEC 91524 dient als Leitfaden für Compliance-Management-Systeme in KMU. Sie soll eine Orientierungshilfe darstellen um Compliance-Risiken zu identifizieren, Verstöße aufzudecken und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Unternehmen sehen sich stetig wachsenden gesetzlichen Anforderungen gegenüber. Bei Verstößen drohen hohe Geldbußen (siehe 1). Geschäftsleiter müssen organisatorisch gewährleisten, dass Mitarbeiter Gesetze einhalten (siehe 2). Kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) fehlen häufig die Ressourcen für Compliance. Eine kürzlich veröffentlichte DIN-Norm will Abhilfe schaffen. Sie enthält einen Leitfaden mit Handlungshinweisen und einem Selbstcheck (siehe 3). Der Leitfaden bietet einen guten Überblick über wesentliche Compliance-Themen (siehe 4). 1 Zunehmende gesetzliche Anforderungen und steigende Sanktionsrahmen Unternehmen sehen sich einer Flut gesetzlicher Vorgaben gegenüber, die häufig sanktionsbewehrt sind. Werden aus einem Unternehmen heraus betriebsbezogene Pflichten verletzt, die Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten sind, können Geldbußen von bis zu 1 Mio. EUR gegen Führungskräfte und Unternehmensgeldbußen von bis zu 10 Mio. EUR verhängt werden (oder höher, um den wirtschaftlichen Vorteil aus der Pflichtverletzung abzuschöpfen). Einzelne Gesetze und EU-Verordnungen sehen sogar umsatzbezogene Geldbußen vor. Verstöße gegen die Datenschutzgrundverordnung oder den Data Act können mit Geldbußen von bis zu 4 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes geahndet werden. Bei Verstößen gegen das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz liegt die Höchstgrenze bei 2 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes. Der AI Act zieht erst bei 7 % eine Grenze. 2 Compliance-Verantwortung der Geschäftsleitung Gesetzesverstöße in Unternehmen müssen verhindert werden. Geschäftsleiter müssen sich nicht nur selbst rechtstreu verhalten, sondern das Unternehmen so organisieren und beaufsichtigen, dass keine Rechtsverstöße begangen werden. Übersteigt das Risiko von Rechtsverstößen eine bestimmte Schwelle, müssen Compliance-Maßnahmen ergriffen werden, die die Begehung von Rechtsverstößen verhindern (LG München I, 5 HK O 1387/10; OLG Nürnberg, 12 U 1520/19). Die Aufsichtspflicht der Leitungsorgane einer Konzernobergesellschaft kann sich auf Compliance-Verstöße in Tochtergesellschaften erstrecken, wenn die Leitungsorgane tatsächlich Einfluss auf die Tochtergesellschaft nehmen (OLG München, 3 Ws 599/14 und 3 Ws 600/14). Kommt es zu Compliance-Verstößen, müssen sie aufgeklärt, abgestellt und sanktioniert werden (LG München I, 5 HK O 1387/10). Die Geschäftsleitung muss regelmäßige Kontrollen und auch überraschende, stichprobenartige Überprüfungen vornehmen (OLG Nürnberg, 12 U 1520/19). Vor oder auch nach dem Rechtsverstoß ergriffene Compliance-Maßnahmen sind bußgeldmindernd zu berücksichtigen (BGH, 1 StR 265/16). 3 Leitfaden für Compliance-Management-Systeme in KMU Gerade KMU fehlen häufig die Ressourcen, um die wachsenden Compliance-Anforderungen zu erfüllen. Der kürzlich veröffentlichte Leitfaden für Compliance-Management-Systeme in kleinen und mittleren Unternehmen ( DIN SPEC 91524) will Abhilfe schaffen und KMU ein Instrument an die Hand geben, mit dessen Hilfe Compliance-Risiken ermittelt, Schwachstellen festgestellt und behoben werden können. Ziel des Leitfadens sind einfache und praktikable Lösungen. Die Arbeitsfähigkeit des Unternehmens soll nicht eingeschränkt werden. Ein Schwerpunkt wird auf die Kommunikation gelegt. 3.1 Compliance-Risiken Nach einer Beschreibung der Unternehmensprozesse führt der Leitfaden typische Compliance-Risiken von KMU auf. Dazu zählen Arbeitsstrafrecht (Arbeitszeit, Betriebssicherheit, illegale Beschäftigung, Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge, Mindestlohn, Arbeitnehmerüberlassung), Außenwirtschaftsrecht (Exportkontrolle, Kapital- und Zahlungsverkehr) Datenschutz (Verarbeitung personenbezogener Daten), Geheimnisschutzstrafrecht, Geldwäsche, Cyber-Risiken, Korruption (im privaten Geschäftsverkehr, Amts- und Mandatsträger), Lieferkettenhaftung (Kinderarbeit, Zwangsarbeit, sichere Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung), Umweltstrafrecht sowie Wettbewerbs- und Kartellrecht. 3.2 Handlungsempfehlungen Sodann gibt der Leitfaden Hinweise zur Verhinderung (Prävention) und Aufdeckung (Detektion) von Compliance-Verstößen sowie zu Folgemaßnahmen (Reaktion) für festgestellte Compliance-Verstöße. Zu den Präventionsmaßnahmen zählen u.a. Verhaltenskodex, Richtlinien, Schulungen sowie eine sachgerechte Aufbau- und Ablauforganisation. Die Aufdeckung von Compliance-Verstößen wird maßgebend ermöglicht durch regelmäßige Kontrollen (und unangekündigte stichprobenhafte Überprüfungen), Audits sowie die Einrichtung eines Hinweisgebersystems. Werden Compliance-Verstöße festgestellt, sollen klar kommunizierte und angemessene Sanktionen greifen. 3.3 Compliance-Selbstcheck Im Anhang enthält der Leitfaden einen Compliance-Selbst-Check mit Fragen, Erläuterungen und Handlungsempfehlungen. Allgemeine Fragen zu compliance-relevanten Aspekten und spezifische Fragen zu den verschiedenen Unternehmensprozessen werden jeweils um Erläuterungen ergänzt. Handlungsempfehlungen helfen, Lücken im Compliance-Management-System zu schließen oder bestehende Compliance-Maßnahmen zu verbessern. 4 Fazit Der Leitfaden ist ein gutes Werkzeug für KMU, um einen Überblick über Compliance-Risiken zu gewinnen, einzuschätzen, wo das Unternehmen steht, und strukturiert risikoreduzierende Maßnahmen zu ergreifen.
von Haufe Online Redaktion (OLG Bremen) 5. Juni 2025
Ein Erbvertrag ist auch dann wirksam abgeschlossen, wenn der Notar seine Unterschrift nicht auf den Vertrag selbst, sondern lediglich auf den verschlossenen Umschlag setzt, in dem sich der Erbvertrag befindet In einem vom OLG Bremen entschiedenen Rechtsstreit stand die Frage der formellen Wirksamkeit eines Erbvertrages im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Der streitgegenständliche Erbvertrag selbst war nicht mit der Unterschrift des Notars versehen. Diese befand sich lediglich auf dem verschlossenen Umschlag, in dem der Erbvertrag verwahrt wurde. Witwer beantragte Erbschein Ein Witwer hatte nach dem Tod seiner Ehefrau beim zuständigen Nachlassgericht die Erteilung eines Erbscheins auf ihn als alleinigen und unbeschränkten Erben beantragt. Hierzu hatte er dem Gericht ein von ihm und seiner Ehefrau im Jahr 2021 errichtetes gemeinschaftliches Testament vorgelegt, in dem sich die Eheleute gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt hatten. Pflichtteilsverzicht der Töchter Die beiden gemeinsamen Töchter der Eheleute widersprachen der Erteilung eines Erbscheins auf den Antragsteller. Sie legten eine notarielle Vereinbarung aus dem Jahr 2012 vor. In dieser Vereinbarung waren Regelungen zur Erbfolge enthalten. Darin setzten sich die Eheleute gegenseitig zu Vorerben ein und bestimmten die Töchter als Nacherben. Diese verzichteten in der notariellen Vereinbarung auf ihren Pflichtteil. Töchter in den Vertrag einbezogen Die Vereinbarung wurde vor dem Notar unter Anwesenheit und Beteiligung der Eheleute sowie deren Töchter geschlossen. Die Urkunde enthielt die ausdrückliche Bestimmung, dass die getroffenen Vereinbarungen als vertragsmäßige Verfügungen im Sinne von § 2278 BGB, also als erbvertragliche Regelungen, anzusehen sind. Notarielle Unterschrift nur auf dem verschlossenen Umschlag Der den Erbschein beantragende Witwer hielt den Erbvertrag u.a. aus formellen Gründen für nicht bindend. Er verwies darauf, dass der beurkundende Notar die notarielle Vereinbarung aus dem Jahr 2012 nicht unterzeichnet hatte. Allerdings hatte der Notar den verschlossenen und mit einem notariellen Siegel versehenen Umschlag, in dem die notarielle Vereinbarung verwahrt wurde, unterschrieben. Erbvertrag war bindend Das Nachlassgericht verweigerte die von dem Antragsteller beantragte Erteilung eines allein ihn als Erben ausweisenden Erbscheins. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Witwers wies das OLG zurück. Wie schon die Vorinstanz war auch das OLG der Auffassung, dass die notarielle Vereinbarung aus dem Jahr 2012 die Erfolge bindend festgelegt hatte und durch das später errichtete gemeinschaftliche Testament nicht geändert oder widerrufen werden konnte. Änderung des Erbvertrages ohne Mitwirkung der Töchter nicht möglich Das OLG legte die in der Urkunde aus dem Jahr 2012 getroffenen Vereinbarungen als vertragsmäßige wechselseitige Verfügungen nach § 2278 BGB aus mit der Folge, dass eine Vertragsaufhebung oder Vertragsänderung nicht ohne weiteres möglich war. Die Voraussetzungen für eine - grundsätzlich mögliche - Aufhebung einer erbvertraglichen Verfügung durch gemeinschaftliches Testament der Eheleute gemäß § 2292 BGB lägen nicht vor, da auch die Töchter Vertragsparteien gewesen seien. Dies folge aus dem von den Töchtern erklärten Verzicht auf ihren Pflichtteil und der ihnen im Gegenzug eingeräumten Rechtsstellung als Nacherben. Vor diesem Hintergrund sei eine Aufhebung der Vereinbarung durch das spätere gemeinschaftliche Testament zum Nachteil der Töchter ohne deren Zustimmung nicht möglich. Notarielle Unterschrift auf Umschlag reicht Die notarielle Vereinbarung aus dem Jahr 2012 war nach der Entscheidung des OLG auch nicht aus formellen Gründen unwirksam. Das Fehlen der Unterschrift des Notars auf der Urkunde selbst ändert nach dem Diktum des Senats daran nichts. Selbst wenn man die fehlende Unterschrift auf der Urkunde als Formfehler bewerten würde, so sei dieser gemäß § 35 BeurkG durch die notarielle Unterschrift auf dem verschlossenen Umschlag geheilt worden. Nach dieser Vorschrift reicht die notarielle Unterschrift auf einem verschlossenen Umschlag, in dem eine Verfügung von Todes wegen enthalten ist, zur Wirksamkeit der Verfügung aus. Den Einwand des Beschwerdeführers, die Unterschrift sei möglicherweise schon vorher auf dem Umschlag angebracht worden und könne deshalb nicht zur nachträglichen Heilung eines Formfehlers führen, bewertete der Senat als haltlose und damit unbeachtliche Spekulation. Witwer ist nicht unbeschränkter Erbe geworden Im Ergebnis war daher der Erbvertrag aus dem Jahr 2012 noch immer wirksam und damit bindend. Damit bleibt der Ehemann Vorerbe, die Töchter sind Nacherben. Das Nachlassgericht hatte nach der Entscheidung des Senats daher zurecht den Antrag auf Erteilung eines Erbscheins, der den Antragsteller als alleinigen und unbeschränkten Erben ausweist, zurückgewiesen. (OLG Bremen, Urteil v. 9.5.2025, 1 W 4/25
von Ass. jur. Harald Büring Freier Autor (LG Berlin II) 5. Juni 2025
Ein Mieter erhielt Schadensersatz, weil sein Vermieter den Eigenbedarf nur vorgetäuscht hatte. Das LG Berlin II entschied, dass der Vermieter seine Umzugspläne nicht ausreichend belegen konnte und einen nachträglichen Wegfall des Eigenbedarfs nicht hinreichend darlegt hat. Mieter verklagte Vermieter auf Schadensersatz Nachdem ein Mieter bemerkt hatte, dass der Vermieter nicht wie in der im Jahr 2018 ausgesprochenen Eigenbedarfskündigung behauptet, nach seinem Auszug in seine ehemalige Mietwohnung in Berlin gezogen war, verklagte er ihn auf rund 15.000 EUR Schadensersatz. Der Mieter berief sich darauf, dass der Vermieter den angegebenen Grund des Eigenbedarfs nur vorgegeben habe. Der Vorwand des Eigenbedarfs habe aber dazu geführt, dass der Mieter 2019 auf Wunsch des Vermieters eine Mietaufhebungsvereinbarung abgeschlossen und aus der Wohnung ausgezogen sei. Vermieter berief sich auf Verzögerung des Umbaus wegen Corona Mit dieser Übereinsicht war der beklagte Vermieter nicht einverstanden. Er behauptete, dass der von ihm angeführte Grund für Eigenbedarf nachträglich weggefallen sei. Das komme daher, weil es durch den unerwarteten Ausbruch der Corona Pandemie im Jahr 2020 zu einer beträchtlichen Verzögerung von erforderlichen Umbaumaßnahmen gekommen sei. Aufgrund dessen habe er seine ursprünglichen Umzugspläne aufgegeben und die Wohnung an nahe Angehörige vermietet. LG Berlin II: Mieter hat Anspruch auf Schadensersatz wegen vorgetäuschtem Eigenbedarf Das LG Berlin entschied, dass dem Mieter der geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz wegen vorgetäuschtem Eigenbedarf aus § 280 Abs. 1 BGB dem Grunde nach zusteht und hob die anderslautende Entscheidung der Vorinstanz auf (Urteil v. 04.09.2024 – 64 S 281/22). Vermieter muss konkrete Umzugspläne darlegen Die Richter begründeten das damit, dass der Vermieter nicht seiner sekundären Darlegungslast für den nachträglichen Wegfall des Eigenbedarfs nachgekommen sei. Hierzu hätte er erläutern müssen, wie er den Umzug nach Berlin hätte durchführen wollen. Konkrete Umzugspläne habe er aber nicht dargelegt. Vielmehr sei aufgrund seines zögerlichen Verhaltens von vornherein fraglich, ob er zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Berlin umziehen sollte. Es sei nicht ausreichend, wenn die Begründung eines Zweitwohnsitzes in Berlin nur in Erwägung gezogen wird. Wann Eigenbedarf nachträglich wegfällt Diese mittlerweile rechtskräftige Entscheidung wirft die Frage auf, inwieweit Vermieter sich darauf berufen können, dass der in der Kündigung angegebene Kündigungsgrund weggefallen ist. BGH stellt hohe Anforderungen an Darlegung Nach der höchstrichterlicher Rechtsprechung müssen Vermieter, die den angeblichen Eigenbedarf nicht umgesetzt haben, den gegen sie bestehenden Verdacht des vorgeschobenen Eigenbedarfs widerlegen (BGH, Beschluss v. 11.10.2016 – VIII ZR 300/15; BGH, Urteil v. 18.05.2005 – VIII ZR 368/03). Beispiele aus der Rechtsprechung In der Rechtsprechung finden sich zahlreiche Fälle vorgeschobenen Eigenbedarfs. Dabei gibt es wiederholt Fälle, in denen es den Vermietern nicht gelingt, den Verdacht des Eigenbedarfs zu widerlegen. LG Kassel: Vorgeschobener Eigenbedarf wegen eBay-Inseraten Ein Vermieter hatte seinem Mieter wegen Eigenbedarfs gekündigt, weil angeblich seine Mutter in das Einfamilienhaus als Mietsache einziehen wollte. Dazu kam es jedoch nicht. Nachdem der Vermieter zwei Anzeigen bei eBay geschaltet hatte, vermietete er es an einen anderen Mieter. Der frühere Mieter verklagte ihn daraufhin auf Schadensersatz und bekam Recht. Das LG Kassel entschied, dass der ehemalige Mieter einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Die Richter sahen die Eigenbedarfskündigung des Vermieters als vorgeschoben an. Sie begründeten das damit, dass er nicht hinreichend dargelegt habe, weshalb der in der Eigenbedarfskündigung genannte Grund weggefallen ist. Unklar sei, weshalb die Mutter des Vermieters nicht mehr in die Wohnung einziehen wollte. Hierfür reiche die Behauptung des Vermieters nicht aus, dass sich die Renovierungsarbeiten verzögert haben. Ebenso wenig nahm das LG Kassel dem Vermieter ab, dass er angeblich durch die eBay-Anzeigen nur habe testen wollen, ob er das Haus für mehrere Monate zwischenvermieten kann (Urteil v. 23.11.2023 – 1 S 222/22). AG Waiblingen: Pflegebedürftigkeit von Ehemann in USA zu vage dargelegt In einem weiteren Sachverhalt kündigte eine Vermieterin ihren Mieter aufgrund von Eigenbedarf, weil sie angeblich mit ihren Kindern in die Wohnung einziehen wollte. Nachdem die Vermieterin die Wohnung direkt nach Auszug des Mieters an eine andere Person vermietet hatte, verklagte der ehemalige Mieter sie auf Schadensersatz. Das AG Waiblingen gab der Klage des früheren Mieters statt. Die Richter begründeten das damit, dass die Vermieterin nicht hinreichend dargelegt habe, weshalb sie aufgrund einer Erkrankung ihres in den USA lebenden Ehemanns und der damit verbundenen Pflege, zwischenzeitlich nicht in die Wohnung ziehen konnte. Sie hätte etwa angeben müssen, an welcher Krankheit ihr Ehemann leidet und weshalb er dadurch pflegebedürftig geworden ist (Urteil v. 15.01.2019 – 9 C 1106/18). Praxistipp: Mieter die eine Kündigung wegen Eigenbedarfs erhalten haben, sollten darauf achten, ob der Vermieter bzw. in der Kündigung angegebene Angehörige tatsächlich in die frei werdende Wohnung einziehen. Wenn z.B. ein anderer Name auf der Klingel steht, kann überprüft werden, ob ein Fall von vorgeschobenem Eigenbedarf vorliegt. Darüber hinaus können Mieter darauf achten, ob der Vermieter die Wohnung inseriert. Vermieter müssen bei vorgetäuschtem Eigenbedarf nicht nur mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, sondern auch mit einer Anzeige wegen Betruges gem. § 263 StGB rechnen. Wenn der angegebene Grund nach der Kündigung weggefallen ist, sollten Vermieter dies plausibel und nachprüfbar begründen.
von Haufe Online Redaktion (BAG-Urteil) 5. Juni 2025
Arbeitnehmende, die mehreren Betrieben desselben Unternehmens angehören, haben bei Betriebsratswahlen in allen diesen Betrieben ein aktives Wahlrecht. Das könne auch für Führungskräfte in einer unternehmensinternen Matrix-Struktur gelten, entschied das BAG. Nach § 7 S. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sind alle Arbeitnehmer, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, bei Betriebsratswahlen wahlberechtigt. Damit knüpft das Gesetz an die Zugehörigkeit zum Betrieb an. Der Arbeitnehmer muss in den Betrieb eingegliedert sein. In unternehmensinternen Matrix-Strukturen haben Führungskräfte oft einen Stammbetrieb, aber auch betriebsübergreifende Weisungsrechte. Im vorliegenden Verfahren hatte das Bundesarbeitsgericht zu entscheiden, ob Führungskräfte damit mehrfach wahlberechtigt sind oder nur an ihrem Stammbetrieb. Der Fall: Anfechtung einer Betriebsratswahl Auf dem Wahlzettel einer Betriebsratswahl tauchten 128 Matrix-Führungskräfte auf, die gegenüber Mitarbeitenden des Betriebs Region Süd weisungsberechtigt waren, aber in anderen Betrieben desselben Unternehmens ihren Stammbetrieb hatten. Diese seien nicht in den Betrieb eingegliedert, meinte der Arbeitgeber, da ihnen das nicht unerhebliche disziplinarische Führungsrecht nicht zustehe, das die Rechtsprechung fordere. Das Wahlrecht gemäß § 7 Satz 1 BetrVG bestehe nur für in den Betrieb tatsächlich eingegliederte Arbeitnehmer, um eine nahe an den vertretenen Arbeitnehmern befindliche Interessenvertretung zu gewährleisten. Der Arbeitgeber beantragte, die Betriebsratswahl aus diesem Grund für unwirksam zu erklären. Vorinstanz erklärt BR-Wahl für ungültig Das LAG Baden-Württemberg erklärte die Betriebsratswahl für ungültig. Obwohl der Betriebsrat des maßgeblichen Betriebs Region Süd bei ihrer Einstellung jeweils gemäß § 99 BetrVG angehört worden sei, seien die Matrix-Führungskräfte nicht wahlberechtigt gewesen, argumentierte das Gericht. In der Begründung führte es aus, dass die Führungskräfte nur in ihrem Stammbetrieb wahlberechtigt seien. Eine mehrfache Wahlberechtigung schloss das Gericht aus. BAG: Matrix-Führungskräfte sind mehrfach wahlberechtigt Das BAG hat die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg aufgehoben. Es hat klargestellt, dass es möglich ist, in mehreren Betrieben wahlberechtigt zu sein. Ob das vorliegend der Fall ist, konnte das BAG nicht abschließend entscheiden. Nun soll das LAG Baden-Württemberg den Sachverhalt zunächst aufklären. In seiner Begründung verwies das Gericht auf § 7 Satz 1 BetrVG , nachdem alle Arbeitnehmer des Betriebs, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, wahlberechtigt sind. Die Wahlberechtigung setze nach dem Gesetzeswortlaut die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zum Betrieb voraus, welche durch die Eingliederung in die Betriebsorganisation begründet werde. Der Umstand, dass ein Arbeitnehmer bereits in einem Betrieb eingegliedert und damit in diesem wahlberechtigt ist, stehe seiner Wahlberechtigung in einem weiteren Betrieb nicht entgegen. Es sei möglich, in mehreren Betrieben wahlberechtigt zu sein, betonte das BAG. Allerdings konnte der Senat nicht abschließend beurteilen, ob dies vorliegend der Fall war. Zunächst müsse das LAG Baden-Württemberg den Sachverhalt abschließend aufklären und feststellen, ob und inwiefern die Matrix-Führungskräfte in den Betrieb Region Süd eingegliedert waren. Hinweis: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. Mai 2025, Az. 7 ABR 28/24; Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Juni 2024, Az. 3 TaBV 1/24
von Haufe Online Redaktion 5. Juni 2025
Schwerbehinderte Menschen sind oft gut qualifiziert und dennoch arbeitslos. Hier besteht ein großes Potenzial im Kampf gegen den Fachkräftemangel, sagte Daniel Terzenbach von der Bundesagentur für Arbeit kürzlich. Welche Besonderheiten gelten im Einstellungsprozess? Die Bundesagentur für Arbeit sieht in den rund 180.000 arbeitslosen Schwerbehinderten in Deutschland ein Potenzial für Arbeitgeber im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Schwerbehinderte Arbeitnehmer seien im Durchschnitt besser ausgebildet als die Gesamtheit der Arbeitnehmerschaft, sagte Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, der Deutschen Presse-Agentur. Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen können also für beide Seiten ein Gewinn darstellen. Bei einer Bewerbung, die einen Hinweis auf eine Schwerbehinderung enthält, sollten Arbeitgeber dennoch wissen, worauf sie im gesamten Bewerbungsprozess achten müssen. Bewerbung von Schwerbehinderten: Pflicht zur Unterrichtung Wenn eine Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen eingeht, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung und die betriebliche Interessensvertretung (also den Betriebs- oder Personalrat) zu unterrichten. Dies muss gemäß § 164 Abs. 1 S.4 Sozialgesetzbuch (SGB) IX unmittelbar nach Eingang der Bewerbung geschehen. Der Arbeitgeber muss die entsprechenden Stellen also von Beginn an in den Bewerbungsprozess einbinden. Die Schwerbehindertenvertretung darf alle erforderlichen Unterlagen einsehen. Schwerbehinderung: Pflichtverstoß mit unangenehmen Folgen Unterlässt es der Arbeitgeber, die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebs- oder Personalrat über die Bewerbung zu informieren, und kommt es bei einer Absage zum Prozess, wird nach BAG-Rechtsprechung eine Benachteiligung des schwerbehinderten Bewerbers oder der schwerbehinderten Bewerberin vermutet. Nicht immer gelingt es dem Arbeitgeber, diese zu widerlegen. Im Fall der Absage eines schwerbehinderten Bewerbers auf die Stelle als Scrum-Master verpflichtete das BAG den Arbeitgeber deswegen zu einer Entschädigungszahlung gemäß § 15 AGG. Zudem begeht der Arbeitgeber eine Ordnungswidrigkeit, wenn er die Schwerbehindertenvertretung oder die betriebliche Interessenvertretung vorsätzlich oder fahrlässig nicht, falsch oder zu spät über Bewerbungen informiert. Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch? Öffentliche Arbeitgeber treffen in einem Bewerbungsprozess noch einmal besondere Pflichten. Entsprechend ihrer Vorbildfunktion müssen sie gemäß § 165 Satz 2 SGB IX schwerbehinderte Menschen, die sich bei ihnen um einen Arbeitsplatz bewerben, zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Auf eine Einladung darf nur verzichtet werden, wenn dem Bewerber oder der Bewerberin die fachliche Eignung für die Stelle offensichtlich fehlt. Ausnahmen können im gestuften Bewerbungsverfahren gelten. Lesen Sie dazu: "Schwerbehinderung: Einladung zum Vorstellungsgespräch kein Muss". Anders als für öffentliche Arbeitgeber besteht für private Arbeitgeber keine Pflicht, schwerbehinderte Bewerber und Bewerberinnen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Vorstellungsgespräch: Darf der Arbeitgeber nach einer Schwerbehinderung fragen? Wenn von Beginn an, also mit der Bewerbung, deutlich ist, dass der Bewerber oder die Bewerberin eine Schwerbehinderung hat, darf die Schwerbehindertenvertretung auch an Vorstellungsgesprächen teilnehmen. Ist die Schwerbehinderteneigenschaft dagegen nicht offenbart, darf der Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch nicht danach fragen. Die Frage nach einer Schwerbehinderung ist diskriminierend und daher unzulässig. Ausnahmsweise zulässig sind Fragen dazu nur dann, wenn bestimmte körperliche oder geistige Fähigkeiten für die Tätigkeit erforderlich sind. Dann darf der Arbeitgeber fragen, ob Beeinträchtigungen des Bewerbers vorliegen, die ihn für die Anforderungen der Stelle ungeeignet erscheinen lassen. Schwerbehinderung: Ablehnung einer Bewerbung Der Arbeitgeber darf Bewerber und Bewerberinnen, die eine Behinderung haben, im Bewerbungsprozess nicht diskriminieren. Das heißt, dass er entsprechend der Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) einen schwerbehinderten Bewerber und andere Bewerber nur aus sachlichen Gründen unterschiedlich behandeln darf, nicht aber aus Gründen der Behinderung. Eine Ablehnung darf also nicht wegen der Schwerbehinderung erfolgen. Wenn der Arbeitgeber sich gegen einen schwerbehinderten Bewerber entscheidet, muss er nach § 164 Abs. 1 Satz 9 SGB IX unverzüglich den betroffenen Bewerber oder die betroffene Bewerberin sowie die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebs- oder Personalrat unterrichten und ihnen die Gründe für die Ablehnung mitteilen. Diese Pflicht zur Unterrichtung greift jedoch laut BAG nur dann, wenn das in den § 164 Abs. 1 Satz 7 und 8 SGB IX beschriebene "Verfahren" durchlaufen wird, wenn also der Arbeitgeber die Beschäftigungsquote nach § 154 SGB IX nicht erfüllt hat, die Schwerbehindertenvertretung, der Betriebs- oder Personalrat mit der ablehnenden Entscheidung nicht einverstanden sind und die einzelnen Gründe mit den genannten Gremien erörtert wurden. Verstößt der Arbeitgeber gegen die (so verstandene) Unterrichtungspflicht, kann daraus im Grundsatz eine Indizwirkung abgeleitet werden, dass der Arbeitgeber den Bewerber oder die Bewerberin wegen der Schwerbehinderung nicht berücksichtigt habe. Der Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht aus § 164 Abs. 1 Satz 9 SGB IX stellt nach § 238 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX zudem eine Ordnungswidrigkeit dar.
von Anke Mächler-Poppen BGM-Beraterin und DHfPG/BSA-Dozentin 8. Mai 2025
Die Gallup Studie zeigt erschreckende Zahlen: 50 % der Beschäftigten überlegen, innerhalb des nächsten Jahres den Arbeitgeber zu wechseln. Die Ursachen dafür sind vielschichtig, das Thema Motivation spielt aber eine große Rolle. Motivationskultur im Unternehmen stärken: Kleine Stellschrauben mit großer Wirkung Um die Motivation zu stärken gibt es verschiedene Ansatzpunkte, die entsprechend der Branche und Unternehmensgröße zum Einsatz kommen können. Leistungsbereite und engagierte Beschäftigte sind keine Selbstverständlichkeit. Angesichts steigender Anforderungen und zunehmender Komplexität gewinnen Motivation und Arbeitszufriedenheit zunehmend an Bedeutung. Unternehmen, die gezielt in motivierende Arbeitsbedingungen investieren, können nicht nur die Produktivität, sondern auch die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten stärken. Viele Unternehmen setzen noch immer primär auf finanzielle Anreize, wenn es um Mitarbeiterbindung geht. Dies wird jedoch häufig überschätzt. Nachhaltige Motivation entsteht vielmehr durch sinnstiftende Aufgaben, Wertschätzung und Entwicklungsmöglichkeiten. Beschäftigte, die einen Beitrag zum großen Ganzen erkennen können, zeigen langfristig höhere Leistungsbereitschaft und Zufriedenheit. Arbeitsplatzgestaltung als Motivationsfaktor Ein zentraler Ansatzpunkt ist die Optimierung der Arbeitsbedingungen. Autonomie, klare Zielsetzungen und funktionierende Feedbackmechanismen sind essenzielle Elemente einer motivierenden Arbeitsumgebung. Beschäftigte, die selbst Entscheidungen treffen können und regelmäßiges, konstruktives Feedback erhalten, steigern ihre Selbstwirksamkeit – ein Schlüssel zur intrinsischen Motivation. Auch kleine Veränderungen können eine große Wirkung entfalten: Dazu gehören etwa das partizipative Festlegen von Zielen, gezieltes Feedback oder eine bewusst wertschätzende Sprache im Arbeitsalltag. Diese Elemente sind oft einfach umsetzbar, zeigen jedoch eine erhebliche Wirkung auf die Motivation. Rolle der Führungskraft: Vorbildfunktion und Selbstführung Führungskräfte sind zentrale Multiplikatoren für Motivation und Engagement. Sie prägen nicht nur die Unternehmenskultur, sondern beeinflussen durch ihr eigenes Verhalten maßgeblich die Motivation ihrer Teams. Insbesondere die Fähigkeit zur positiven Selbstführung – also ein bewusster Umgang mit den eigenen Ressourcen, Zielen und Werten – wirkt sich unmittelbar auf die Führungskompetenz aus. Werte, Kommunikation und Unternehmensleitbild Einige Unternehmen haben mit gezielten Maßnahmen bereits messbare Erfolge erzielt. Dazu gehören etwa die Einführung partizipativer Führungsmodelle, kurze tägliche Feedbackrunden oder die Integration von Motivationsimpulsen in Teambesprechungen. Entscheidendes Element: Die Maßnahmen wurden konsequent an den Bedürfnissen der Beschäftigten ausgerichtet und regelmäßig evaluiert. Neben den erläuterten Maßnahmen ist es auch wichtig, die sich in der heutigen Zeit ständig verändernden Rahmenbedingungen zu berücksichtigen und auch situativ auf diese mit sowohl fortlaufenden als auch temporären Maßnahmen einzugehen. Motivation entsteht nicht zufällig – sie ist das Ergebnis bewusst gestalteter Arbeitsbedingungen. Bereits kleine Maßnahmen können eine große Wirkung zeigen.
von Dr. Joerg Hensiek Journalist und PR-Berater, Schwerpunkte Arbeitsschutz, Forst- und Holzwirtschaft 8. Mai 2025
Regelmäßige Betriebsbegehungen sind ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Unternehmen. Durch sie entsteht ein umfassendes und realistisches Bild von den tatsächlichen Arbeitsbedingungen und Gefährdungen im Betrieb. Aber was genau ist unter eine Betriebsbegehung zu verstehen und wie muss sie am besten organisiert und durchgeführt werden? Was ist eine Betriebsbegehung? Ziele und Nutzen Durch Betriebsbegehungen werden alle Bereiche eines Unternehmens in regelmäßigen Abständen systematisch auf die einwandfreie, vollständige sowie gesetzes- sowie normkonforme Umsetzung aller Arbeitsschutzmaßnahmen überprüft. Mit einer Betriebsbegehung wird analysiert, wo potentielle Gefährdungen bzw. Gesundheitsrisiken bestehen oder entstehen könnten und wie man diese beheben oder bereits im Vorfeld vermeiden kann. Betriebsbegehungen sind auch zentraler Bestandteil von internen Audits. Unternehmen, die bereits Arbeitsschutzmanagement-Systeme eingeführt haben, können mittels der Betriebsbegehungen im Rahmen der internen Auditierung zusätzlich feststellen, ob bestimmte Arbeitsschutzprozesse im Unternehmen noch verbesserungsbedürftig sind, ob sie mit anderen betrieblichen Prozessen gut abgestimmt sind oder ob sie noch weiter optimiert werden können. Gibt es Unterschiede zu Arbeitsplatzbegehungen und Betriebsbesichtigungen? Betriebsbegehungen werden immer von Angehörigen des eigenen Betriebs durchgeführt. Dadurch unterscheiden sie sich von den überbetrieblichen Betriebsbesichtigungen der Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichtsämter (Ämter für Arbeitsschutz). Der Unterschied zu Arbeitsplatzbegehungen dagegen ist in erster Linie eine Frage des Aufwands. Die Vorbereitungen und Nachbereitungen für eine Betriebsbegehung sind wesentlich größer, denn sie untersucht den gesamten Betrieb, nicht lediglich bestimmte Bereiche oder Arbeitsplätze. Darüber hinaus werden bei einer Arbeitsplatzbegehung nur die offen sichtbaren Fehler festgestellt, beispielsweise die Überprüfung des Zustands der Maschinen oder ob alle Persönlichen Schutzausrüstungen (PSA) vollständig deponiert sind. Die Betriebsbegehung dagegen geht „tiefer“, es ist quasi die Qualitätssicherung des Arbeitsschutzes in einem Betrieb. In ihm werden auch alle organisatorischen Abläufe überprüft, die bei einer einfachen (und daher eher „oberflächlichen“) Arbeitsplatzbegehung nicht so schnell erkennbar wären. Wann ist eine Betriebsbegehung durchzuführen? Über zeitliche Vorgaben für die Durchführung einer Betriebsbegehung macht kein Arbeitsschutz-Regelwerk eine konkrete Aussage. Im Arbeitssicherheitsgesetz heißt es lediglich, dass diese auf regelmäßiger Basis („regelmäßig“) erfolgen müssen. Damit liegt die zeitliche Terminierung einer Begehung mehr oder weniger allein in der Verantwortung des Arbeitgebers, der sich dabei an der Größe seines Unternehmens und dem jeweiligen dort herrschenden Gefährdungspotenzial orientieren sollte. Wer muss an der Betriebsbegehung teilnehmen? Teilnehmer der Betriebsbegehung sind in der Regel die Fachkraft für Arbeitssicherheit, der Betriebsarzt, eine Führungskraft aus der zu begehenden Abteilung und ein Vertreter des Betriebs- bzw. Personalrats. Es ist empfehlenswert, auch die Sicherheitsbeauftragten des Unternehmens hierbei einzubeziehen. In kleineren Unternehmen ist auch der Betriebsinhaber oft bei der Begehung dabei. Aus Motivationsgründen bzw. Imagegründen für den betrieblichen Arbeitsschutz ist es ratsam, diese Praxis auch in größeren Unternehmen anzuwenden. Welche Pflichten hat der Arbeitgeber? Wie in allen Bereichen des Arbeitsschutzes haben die Unternehmer bzw. Arbeitgeber auch die Hauptverantwortung für die korrekte und regelmäßige Durchführung der Betriebsbegehung. Es gibt für sie aber keine gesetzliche Verpflichtung, eine Betriebsbegehung in bestimmten zeitlichen Abständen durchzuführen oder selbst an ihnen teilzunehmen. Betriebsbegehung als Teil der Gefährdungsbeurteilung Eine Betriebsbegehung ist ein Instrument der vom Arbeitsschutzgesetz geforderten Gefährdungsbeurteilung. Das im Rahmen der Betriebsbegehung erstellte Mängelprotokoll ist integraler Bestandteil der Dokumentation über die Gefährdungsbeurteilung und deren Ergebnisse. Während der Begehung werden alle Faktoren berücksichtigt, die am Arbeitsplatz zu einer Gefährdung für die Beschäftigten oder den Betriebsablauf führen könnten. Dabei kann es sich beispielsweise um mechanische, biologische oder chemische Gefährdungen handeln. Weiterhin werden die Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe vor dem Hintergrund des Arbeits- und Gesundheitsschutzes betrachtet. Hierzu gehören inzwischen auch psychische Belastungen für die Beschäftigten. Betriebsbegehung richtig durchführen: So ist der Ablauf Die Betriebsbegehung besteht aus mehreren Schritten, inklusive der Vor- und Nachbereitung. Im Folgenden ein Überblick über die vier wichtigsten Prozesse: Erstellung der Arbeitsdokumente: Im Vorfeld einer Begehung sollten unbedingt alle notwendigen Informationen vorliegen, beispielsweise über die rechtlichen Anforderungen oder branchenspezifische Checklisten, Gefährdungskataloge, Belastungskataloge und Arbeitsblätter für alle relevanten Arbeitsmittel im Betrieb. Auf dieser Grundlage müssen die begehungsspezifischen Arbeitsdokumente erarbeitet werden. Diese sollte die Teilnehmer der Begehung entweder von der Geschäftsführung oder in Unternehmen mit Arbeitsmanagement-Systemen vom AMS-Koordinator erhalten oder bei Fehlen selbst erstellen. Folgende Arbeitsdokumente sollten vor Beginn der Begehung vorliegen: Prüfbericht zur Dokumentation Fragen-Liste für Interviews mit den Beschäftigten Formulare für die Berichterstattung über die Feststellungen Teilnehmerliste Liste aller eingesehenen Dokumente Die Arbeitsdokumente können in analoger oder digitaler Form erstellt werden. Jedes Arbeitsdokument sollte auf seine Zweckmäßigkeit durch folgende Fragen geprüft werden: Welche Tätigkeit bei der Begehung ist durch welche Arbeitsunterlage abgedeckt? Welche Informationen werden für jedes einzelne Arbeitsdokument benötigt? Wie gestaltet man die Arbeitsunterlage so, dass sie spätere Nutzer problemlos anwenden und weiterführen können? Befragung der Beschäftigten: Die anschließende Befragung von Beschäftigten in Interviewform ist vielleicht das wichtigste aller Instrumente der Begehung. Die Befragungen sollten im persönlichen Gespräch vor Ort durchführt werden, unter gewissen Umständen können aber auch mit Live-Schaltungen auf digitalem Weg die erforderlichen Informationen erfragt werden. Diese Punkte sollten die Teilnehmer vor und beim Interview mit den Beschäftigten beachten: Ausschließlich Personen für die Befragungen auswählen, die in Bereichen arbeiten, die Teil des geplanten Begehungsumfangs sind. Die Interviews nur innerhalb der Arbeitszeit der Informanten ausführen, nicht davor oder danach, damit diese möglichst ausführlich und bereitwillig Auskunft geben. Den Beschäftigten sollten ausschließlich Fragen hinsichtlich ihrer Aufgaben im Betrieb, ihrer Rolle im Arbeitsschutz-System des Unternehmens und bezüglich ihrer Einschätzung der Situation am Arbeitsplatz gestellt werden. Suggestivfragen möglichst vermeiden – Fragen also, welche die Antworten schon vorgeben oder zumindest in eine bestimmte Richtung lenken. Den Interview-Partnern sollte aus Transparenzgründen vor der Befragung offen und ehrlich erläutert werden, welchem Zweck die Befragung dienen soll. Die Ergebnisse der Befragung sollte das Begehungsteam zum Schluss kurz zusammenfassen. Dem Befragten sollte die Gelegenheit gegeben werden, diese Zusammenfassung zu bestätigen oder zu korrigieren. Da es aufgrund des begrenzten Zeitfensters für ein Begehung kaum möglich ist, alle möglichen Daten für die Auswertung zu sammeln und zu analysieren, sollte man sich auf eine Stichprobennahme beschränken. Die Stichprobe sollte möglichst 10-15 Prozent der in einer Abteilung arbeitenden Personen umfassen, in kleineren Unternehmen kann sie auch größer sein. Risikoermittlung: Die im Rahmen der Begehung gesammelten Daten müssen dann anhand der im Vorfeld festgelegten Kriterien (zum Beispiel rechtliche Anforderungen) bewertet werden, um Feststellungen (zum Beispiel Konformität mit rechtlichen Anforderungen, Nichtkonformität, potenzielle Verbesserungsmöglichkeiten, Mängel) treffen zu können. Die festgestellten Mängel oder Risiken werden auch als Abweichung bezeichnet. Aus diesen Abweichungen ergeben sich je nach Thema und Tätigkeiten sehr unterschiedliche Risiken. So können einige Abweichungen lebensgefährliche Auswirkungen haben, andere dagegen sind vergleichsweise als risikoarm einzustufen. Man sollte daher diese unterschiedlichen Risiken nach einem im Vorfeld festgelegten Bewertungsschlüssel gewichten bzw. klassifizieren. Allgemein gültige oder gar gesetzliche Bestimmungen für eine korrekte Vorgehensweise gibt es hierzu nicht. In vielen Mängellisten bzw. Abschlussberichten werden die Klassifikationen „Major = Schwerwiegende Abweichungen“ und „Minor = Leichte Abweichungen“ benutzt. Beispiele für mögliche Abweichungen aus sehr unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens sind: Überschreiten des Prüfzeitraumes bei Werkzeugen, Maschinen und Anlagen. Die Dokumentation der Unterweisungen erfolgt nicht regelmäßig. Für bestimmte Tätigkeiten wird nicht die dafür notwendige PSA zur Verfügung gestellt. Risikobewertung: Die bei der Begehung festgestellten Mängel bzw. Risiken müssen in einem Mängelprotokoll dokumentiert werden, das in der Regel von der Fachkraft für Arbeitssicherheit geführt wird. Bei der Mängel- bzw. Risikobewertung müssen zwei Kriterien berücksichtigt werden: „Eintrittswahrscheinlichkeit“ und „Schadensausmaß“. Dabei wird die Schadensschwere auf der x-Achse und die Eintrittswahrscheinlichkeit auf der y-Achse eingezeichnet. Als Kategorien für die Schadensschwere kann man zum Beispiel folgende Kriterien heranziehen: Leichte Verletzung oder Erkrankung, zum Beispiel kleine Schnittverletzungen. Mittelschwere Verletzung oder Erkrankung, zum Beispiel unkomplizierter Knochenbruch. Schwere Verletzung oder Erkrankung, zum Beispiel Querschnittslähmung. Todesgefahr. Die Beurteilung darüber, wie wahrscheinlich der Eintritt einer Erkrankung bzw. Verletzung ist und wie schwer die damit verbundene Gefährdung ist, erfolgt aber allein auf Basis des „gesunden Menschenverstands“ und der beruflichen Erfahrung der Begehungsteilnehmer. Aufgrund der Schadenschwere lässt sich schließlich die Priorität der Schutzmaßnahmen ableiten. Die Mängelliste wird nach Fertigstellung an die jeweiligen Abteilungen weitergeleitet. Diese bekommen Fristen gesetzt, bis wann sie diese Mängel abzustellen haben.
von Haufe Online Redaktion 8. Mai 2025
Am 1. Mai ist "Tag der Arbeit", ein gesetzlicher Feiertag in allen Bundesländern. Da der Tag 2025 auf einen Donnerstag fällt, bietet sich Beschäftigten die ideale Möglichkeit, durch einen Brückentag das Wochenende zu verlängern. Aber wie sieht das arbeitsrechtlich aus: Müssen Arbeitgeber Brückentage gewähren? An Brückentagen freinehmen ist beliebt. Die nächste Möglichkeit dazu haben Beschäftigte, wenn sie sich den Freitag nach dem Feiertag am 1. Mai 2025 freinehmen und so das Wochenende verlängern. Doch wer darf an den Brückentagen Urlaub nehmen, wenn alle frei haben wollen? Sucht man im Gesetz nach einer rechtlichen Grundlage für Brückentage, wird man nicht fündig. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Brückentage sind in arbeitsrechtlicher Hinsicht ganz normale Urlaubstage. Brückentag: Urlaubswünsche sind zu berücksichtigen Die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften finden sich folglich im Bundesurlaubsgesetz (BUrlG). Auch in Tarifverträgen oder Arbeitsverträgen können Regelungen zum Thema Urlaub enthalten sein. Nach § 7 Abs. 2 S. 1 Bundesurlaubsgesetz soll Urlaub grundsätzlich zusammenhängend gewährt werden. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wenigstens einmal jährlich eine längere Erholungsphase bekommen. Davon abgesehen, darf man die Urlaubstage frei auf das Kalenderjahr verteilen. Prinzipiell sind die Urlaubswünsche der Beschäftigten bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs vorrangig zu berücksichtigen, es sei denn, dass dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmenden, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Auf die Gewährung von Brückentagen zur Urlaubsoptimierung besteht kein grundsätzlicher Anspruch. Urlaub muss abgestimmt werden Niemand hat also einen Anspruch darauf, seinen Urlaub genau an dem gewünschten Brückentag zu nehmen und gewährt zu bekommen. Wann und ob der Urlaub gewährt wird, hängt in erster Linie von den Gegebenheiten im Betrieb und den Interessen der anderen Beschäftigten ab. Um Ärger mit den Kollegen oder Kolleginnen zu vermeiden, sollten Mitarbeitende den Urlaub mit ihnen abstimmen. Damit Urlaubswünsche vom Arbeitgeber berücksichtigt werden können, ist es ratsam, dass Arbeitnehmende den entsprechenden Urlaubsantrag möglichst frühzeitig und vorausschauend stellen. Sinnvollerweise sollte der Urlaub erst nach einer Urlaubserteilung verbindlich gebucht werden, um Probleme zu vermeiden. Widerruf von einmal gewährtem Urlaub Kann der Arbeitgeber den einmal gewährten Urlaub widerrufen, wenn sich die Umstände völlig überraschend geändert haben? Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung steht dem Arbeitgeber, wenn der Urlaub bereits erteilt wurde, kein pauschales Widerrufsrecht zu - hierfür fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Sobald der Urlaub einmal gewährt und festgelegt wurde, ist der Arbeitgeber grundsätzlich an seine Urlaubsgewährung gebunden und darf diesen nicht einfach widerrufen. (Lesen Sie dazu: Können Arbeitgeber Urlaub streichen, verweigern oder einseitig festlegen?). Urlaubsänderung: einvernehmlich oder in absoluten Ausnahmefällen Soll der festgelegte Urlaub – auf Veranlassung des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmenden – nachträglich geändert werden, bedarf es einer entsprechenden Vereinbarung zwischen den Arbeitsvertragsparteien. Lediglich in Ausnahmefällen kann der Urlaub ohne ausdrückliche Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien einseitig verlegt werden. Auf Arbeitgeberseite ist hierbei vor allem an Katastrophenfälle oder an den plötzlichen Ausfall einer größeren Zahl von Beschäftigten zu denken, durch den der Fortgang der Produktion gefährdet wäre. Die Wirkung der Festlegung kann allerdings kraft Gesetzes entfallen: wenn Beschäftigten die Arbeitsleistung im Urlaubszeitraum durch ein gesetzliches Tätigkeitsverbot unmöglich wird. Das hat das BAG bislang so für den Mutterschutz entschieden. Brückentage anordnen: Zwangsurlaub Wie aber ist die rechtliche Situation, wenn der Arbeitgeber einen Brückentag anordnet? Darf er seine Beschäftigten so einfach in "Zwangsurlaub" schicken, auch wenn diese vielleicht lieber arbeiten möchten? Grundsätzlich gilt hier: Der Arbeitgeber darf nur unter den Voraussetzungen von § 7 Abs. 1 BUrlG den Urlaub entgegen der Urlaubswünsche von Arbeitnehmenden festlegen. Es müssen beispielsweise dringende betriebliche Belange vorliegen. Auch der Betriebsrat hat bei der Festlegung hier ein Mitbestimmungsrecht. Mit einer Betriebsvereinbarung kann für bestimmte Tage, also auch Brückentage, Betriebsruhe festgelegt werden. Brückentag: Urlaub oder Überstunden Für einen Brückentag muss üblicherweise Urlaub genommen werden. Existieren im Unternehmen Arbeitszeitkonten, muss die Berechtigung für das Abbuchen von Zeitguthaben für Brückentage in der Betriebsvereinbarung getroffen sein.
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